Es gibt eine Person, die mir auf Schritt und Tritt folgt. Eine Person, die ich noch nie getroffen habe. Aber die aus irgendwelchen Gründen seelenverwandt zu sein scheint. Seelenverwandt, weil sie sich immer mit den gleichen Themen beschäftigt wie ich.
Ich rede von Journalist und Buchautor Jon Ronson (in Deutschland v.a. bekannt durch „Männer die auf Ziegen starren“).
Jetzt hat er wieder zugeschlagen.
Im Mai hab ich mir Pornocracy auf dem Münchner Filmfest angeschaut. Damals schrieb ich:
Im Film geht es darum, die Machenschaften hinter der Firma Manwin, jetzt Mindgeek, aufzudecken. Das ist die Gesellschaft, die heute nahezu jedes größere Porno-Studio und nahezu alle Internet-Porno-Seiten betreibt und sich damit eine fragwürdige Monopolstellung erarbeitet hat. Also, ich dachte, darum würde es gehen.
Denn (die Regisseurin) Ovidie schafft es eher, einen absoluten Nicht-Recherche-Film zu produzieren. Wo es tausende von spannenden Geschichten zu erzählen gäbe, beschränkt sich ihr Film über lange Strecken auf das Zeigen des harten Lebens von Pornodarstellern (…) Letztlich ist die Dokumentation ein Klagelied einer dauernd betröpelt vor sich dreinguckenden Gastgeberin (…) Genau der gleiche Film hätte vor 15 Jahren aber auch mit der Musikindustrie und Napster produziert werden können. (…) Das soll die Disruption und das menschliche Leid, die das Internet in allen Branchen mit sich bringt (…) nicht verharmlosen, aber man fragt sich schon, was der Film nun eigentlich will. (…) Ovidie ist sogar so schlecht in ihren Recherchen, dass sie in die Welt-Redaktion fahren muss, um dort einen 5 Jahre alten Bericht über Ex-Chef Fabian Thylmann direkt von der Zeitung abzufilmen(!), weil sie es nicht schafft, selbst mal bei Mindgeek oder zumindest mal in Thylmanns Club vorbei zu schauen.
(…) Quintessenz: Mehr Kommentar als Dokumentarfilm. Schade. Die Welt und der Spiegel hatten gezeigt, wie viel Potential im Thema steckt und wenn nicht mal die eigene Branche intern in der Lage ist, Licht ins Dunkel zu bringen, dann mache ich mir da wenig Hoffnung auf Aufklärung.
Scheinbar hat Jon Ronson meinen Blogbeitrag gelesen.
Denn genau das greift sein Audio-Feature „The Butterfly Effect“ nun auf. Bereits in der ersten Minute ist klar, was für ein Interview-Kaliber Jon ist. Wo Ovidie am Ende gerade mal jemand über diesen mysteriösen Fabian interviewt, der eigentlich nichts über Fabian weiß, interviewt Jon bereits in der ersten Minute des 3 1/2 stündigen Features… Fabian.
Er schaut sich alle Seiten an. Er findet die Geschichten, die man in Pornocracy erwartet hätte – und übertrifft das zum Teil noch. Lachen, weinen, staunen, mitfühlen, sich fragen – es ist alles dabei. Nur keine Verurteilung. Kritisch nachgefragt wird trotzdem. Und ganz am Ende hat die Geschichte vor allen Dingen das, was Pornocracy nie sein wollte und konnte: Einen Lichtblick, dass, trotz der ganzen Misere des Verlusts der Besonderheit von Sexualität durch die Disruption der New Economy auch etwas Positives, etwas Gutes entstehen kann. Und dass das nicht heißen muss, dass wir nicht gleichzeitig kritisch bleiben.
Sicher, über das Firmengeflecht Mindgeek wissen wir auch nach Butterfly nicht soviel mehr. Oder über die Frage, warum sie den halblegalen Service überhaupt so in Nordamerika hinkriegen, wo seit der Verhaftung KimDotComs nahezu alle extrem vorsichtig geworden sind. Wir erfahren aber, warum der Laden so funktioniert, wie er funktioniert und dass das Geheimnis in einer strickten Trennung von Content und Tech Development in Montreal liegt – Mindgeek also halt auch nicht anders geführt wird wie jede andere DotCom-Klitsche. Dass die hohe Privatsphäre um die Firma damit auch der Gefahr der Stigmatisierung seiner (Non-Porn)-Mitarbeiter begegnen soll, ist irgendwo verständlich. Wir erfahren, wie Fabian wohnt. Wir erfahren, wie die Mitarbeiter bei Mindgeek arbeiten. Wir erfahren, welche Konsequenz Pornhub.com auf die Jugend hat – oder zumindest haben könnte. Und wir erfahren, was Thylmann den Produzenten von Pornofilmen zu sagen hat.
Danke, Jon! Ein wichtiges Dokument. Und von mir eine große Hörempfehlung, wer sich für (Porno-)Disruption im Internet oder einfach gute Geschichten interessiert. „The Butterfly Effect“ schlägt „Pornocracy“ jedenfalls sicherlich um Längen.
Derzeit bei Amazon.com kostenlos als Audible Original zu haben (anhörbar dann über den Cloud-Player bei audible.com, die deutsche Software funktioniert dafür nicht).
Das Foto der Brüste habe ich rein zum Clickbait eingebaut und ist von Chetanbhagat666 (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons.
Help's talking to everyone involved 😉 https://t.co/6NbAwSkhMT
— Fabian Thylmann (@ftyl) 29. Juli 2017