Ich schaue gerade Making a Murder, bzw. hole es nach. Bislang bin ich zum Fall „ungespoilered“ und erlebe die Entwicklung quasi noch in Echtzeit. Die Doku-Serie begleitet einen Sträfling, der von sich behauptet, unschuldig zu sein. Dabei macht die Serie aber auch wenig Hehl daraus, auf der Seite des Betroffenen zu stehen: Es werden primär die Familien begleitet und weniger die Opfer des Mordes, dessen er angeklagt wird. Wirklich einseitig kann man die Berichterstattung aber auch nicht nennen. Nach Staffel 1 dachte ich zuerst, es kann eigentlich nicht noch mehr kommen – und dann setzt Staffel 2 doch noch ein paar enorme Entwicklungen oben drauf.
Making a Murderer ist eine US-amerikanische Dokumentar–Serie des US-Video-on-Demand-Anbieters Netflix aus dem Jahr 2015.[1] Die über einen Zeitraum von 10 Jahren produzierte Serie schildert die Ereignisse um Steven Avery aus dem US-Bundesstaat Wisconsin, der 18 Jahre unschuldig in Haft saß.[2][3] Nach seiner Haftentlassung 2003 verklagte er die für seine Verurteilung Verantwortlichen auf 36 Millionen US-Dollar Schadensersatz. Kurze Zeit später wurde er 2005 des Mordes an der 25-jährigen Teresa Halbach beschuldigt und für schuldig befunden, obwohl er erneut auf unschuldig plädierte.[2] Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt zurzeit im Waupun Correctional Gefängnis (Stand Dezember 2015).
(Quelle – Vorsicht, möglicherweise Spoiler)
Tatsächlich ist der Fall jetzt viel Größer als nur eine reine True-Crime-Story, auch wenn gerade die Aufmachung in Staffel 2, in der sich Star-Anwälte und Möchtegerns dem medialen Echo der ersten Staffel mehr als offensichtlich bedienen, anderes vermuten lässt. Es geht im Kern um ganz zentrale Fragen des Rechtssystems, der Rechtssicherheit und der Demokratie an sich. Es geht auch um Staatsmacht und Machtmissbrauch und um ungeheure Vorwürfe bis hin zum Staatsterrorismus gegen einzelne Bürger, möglicherweise getrieben aus persönlichen Interessen, Korruption und mangelnder Charakterethik und -integrität. Es geht ganz praktisch darum, ob die ganze Justiz im Bundesstaat Wisconsin ihr Gesicht verliert, weil sie -so lange die Serie läuft- immer höher pokert, um ihr eigenes Gesicht (das, wie die Serie suggeriert, möglicherweise nur ein Pokerface sein könnte) zu wahren. Es ist ein juristisches All-In mit hochexplosivem Super-GAU-Potential, angeheizt durch eine Serie auf Netflix, die so einen Wirbel macht, dass sie komplette Gerichtsurteilsketten kippt, nur um sie erneut -und womöglich fälschlich- zu etablieren.
Auch deswegen ist Making a Murder ein Paradebeispiel nicht für die Staatsmacht, sondern auch für die Macht von Medien. Ab Staffel 2 ist die Serie sogar gezwungen, seinen eigenen Einfluss etwas näher und transparenter in den Mittelpunkt zu rücken. Sie ergreift bewusst (wenn auch nicht plakativ) Partei für das Opfer und setzt damit der bislang etablierten Horrorstory der angeblichen Taten von Steven Avery in den Massenmedien ein Gegengewicht. Ein Perspektivwechsel, der zumindest aus moralischer und ethischer Sicht und dem Verständnis der Unschuldsvermutung selbstverständlich sein sollte – doch statt dessen bricht erst nach der Ausstrahlung gefühlt die halbe mediale Welt (und auch teile der Justizwelt) ausseinander: Richter zweifeln an Urteilen, Staatsanwälte geraten ins Kreuzfeuer, Rechtsanwälte beschuldigen sich gegenseitig, Geschäftsleute nutzen den Trubel um die Sendung schamlos aus, (entschuldigte) Jury-Mitglieder zweifeln an Entscheidungen – und mitten drin eine einfach gestrickte Land-Familie, die das alles unbegreifbar lange aushält, während die Autos auf ihrem Schrottplatz den Dauer der Serie über vor sich hinrotten. So wird die Doku fast schon zum Paradebeispiel für Filter-Bubbling, Public Shaming, Medienmacht, Staatsmacht und dem Vorwurf, dass man (zumindest in den USA) Menschen furchtbar leicht ans Bein pinkeln, aber nahezu kaum seine eigene Unschuld beweisen kann.
Für mich eine Empfehlung, wobei ich denke, dass man sich idealerweise vorher nicht in den Fall einlesen sollte, da sich die komplette Serie quasi in Echtzeit entfaltet und den ganzen Effekt daraus zieht.