Ich hab mich häufig mit Leuten über meine Aussagen gestritten, dass ich keine moralischen Probleme hätte, mit Nazis ein Bier trinken zu gehen, oder mit Kriegsverbrechern, oder mit einem Kinderschänder. Ich hätte im besten Fall Angst, aber keine moralischen Bedenken. Meine Einstellung dazu ist vielleicht etwas radikal. Sie lautet, dass ich, nur weil ich die Position eines Menschen nicht teile, ihn deswegen trotzdem weiterhin als Menschen behandele. Alles ist relativ. Es ist gut möglich, dass ich die Position einfach nur nicht verstehe.
Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, meine moralischen Vorstellungen der Unverletzbarkeit von Leben und dem Prinzip des Nichtschadens über den Haufen zu werfen, heißt das noch lange nicht, dass ich Menschen, die das anders sehen, mundtot machen soll. Im Gegenteil: Gerade Randgruppen, vom Nazi über PEGIDA bis ISIS, würde ich ein Sprachrohr geben. Was gibt es zu verstecken? Wer seine Moral gegen diese Einstellungen nicht verteidigen kann, hat für mich ohnehin ein Moralproblem. Und gerade, dass wir diese Personen nicht verstehen, weil wir ihre Probleme und Positionen nicht anhören, macht in meinen Augen das Kernproblem von Radikalismus aus.
Noch ein populäres Beispiel? Ken Jebsen. Er ist umstritten, manche halten ihn für einen Antisemit. Selbst wenn er das wäre (ich halte ihn persönlich primär für einen radikalen Israelkritiker, aber das tut eigentlich nichts zur Sache) ist das für mich kein Grund, ihn mundtot zu machen. Himmel, ich bin sogar der Meinung, die Holocaustleugnung müsste erlaubt sein (weil Blödsinn reden nicht verboten sein sollte). Es ist mir schlicht egal, was er denkt. Ich teile viele Standpunkte von ihm nicht. Ich mag Teile seiner Interviewart nicht und halte sie manchmal für irregeführt und rethorisch-gelenkt. Aber ich mag seine Interviewpartner und ich halte die Probleme, die er behandelt, für real und relevant. Er liefert einen wichtigen Beitrag zur pluralistischen Debatte in den immer weniger pluralistischen Medien. Ich find das wunderbar und unterstütze das und finde das durchaus auch eine menschliche Leistung, also respektiere ich ihn insofern auch als Mensch.
Natürlich ist nichts davon in Stein gemeißelt. Als Anhänger des Konstruktivismus können sich meine Positionen durch neue Erkenntnisse natürlich auch ändern. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass für viele Menschen eben genau das in Stein gemeißelt zu sein scheint: Passt die eigene Person nicht zur eigenen Ideologie, wird sie verdammt. Raum für Debatte scheint es überhaupt nicht zu geben. Am liebsten würde man die Person mundtot machen. Das geht vom Feminismus bis zur Antifa. Die Ideologie ist entscheidend. Zuerst muss das Mindset der Menschen geändert werden, damit wir die Menschen ändern. Und das ist die Aufgabe.
Ich finde das gräßlich.
Für mich ist das alles auch nicht demokratisch. Es führt zu einer Zersplitterung, nicht zu einem Verständnis. Es treibt Keile zwischen die Menschen. Und wer Nazis verbieten will, zu sprechen, ist um keinen Deut weniger ideologisch-faschistisch, wie die Nazis selbst.
Vielleicht mag ich deswegen Jon Ronson so. Seine Dokumentationen haben immer den Wortlaut getroffen, den ich mag: Er hat Leute vorurteilsfrei begleitet und ihnen zugehört. Nazis, Verschwörungstheoretiker, Hassprediger, Militärs, Priester, Politiker, Psychopathen, Opfer, Antisemiten, Scientologen, Israelis – egal! Er hat dabei nie seine eigene Stimme und Meinung verloren. Er sich dabei trotzdem immer selbst hinterfragt. Und er hat seine Interviewpartner immer als Menschen behandelt und portraitiert.
Ich fand das gut. Ich fand das wichtige Beiträge. Ich glaube, dass bringt uns zusammen und die Welt auf einen gerechten Weg voran.
Aber natürlich kämpft auch er mit dem gleichen Problem. Gibt er wirklich gefährlichen Personen dadurch eine Bühne? Müsste er seine eigene Meinung nicht entsprechend laut vertreten, um sie nicht zu inflationieren, um sie nicht durch Passivität mundtot zu machen? Wie stark muss man gegenläufigen Strömungen wie hier Radikalismus, Globalismus oder Hasskriegern entgegentreten, um moralisch verantwortlich zu sein?
Ich finde tatsächlich: Gar nicht.
Aber gut: Ich verteidige auch die Neutralität der Schweiz. Ich bin der Meinung, kein Land sollte in ein anderes einmarschieren, selbst wenn dort Unrecht geschieht. Wenn in Saudi-Arabien Menschen- und Frauenrechte mit Füßen getreten wird, gehört das aus der eigenen Sicht angeprangert. Aber es gehört sich eben gerade nicht, diese Sicht einem anderen Land aufzudoktrienieren – in welcher Form auch immer. Einen Aktivismus gegen eine Ideologie innerhalb dieser Ideologie ist für mich einfach per-se faschistisch.
Ich sage nicht, dass man ein Verbrechen zulassen darf, wenn man Zeuge davon wird und es verhindern kann. Wenn Flüchtlinge aus diesen Ländern fliehen, muss man sie mit offenen Armen empfangen und ihr Leben verteidigen. Es heißt nur, dass man akzeptiert, dass Menschen sehr verschieden sind und verschieden handeln. Es heißt auch, dass man akzeptieren muss, dass die eigene Wertvorstellung nie die absolute Ideologie sein kann, weil das an sich didaktorisch oder zumindest unpluralistisch wäre (und in meinen Augen die Menschheit in den Abgrund stürzen würde). Und es heißt dass der erste Schritt, zu mehr Akzeptanz, das Verstehen des anderen ist, was nicht ohne Dialog gelingt. Es heißt, dass ein (Angriffs)krieg nie eine Lösung ist – egal ob man mit der Ideologie des Landes oder der Ideologie von einer Person einverstanden ist oder nicht.
Alles was ich hier so lange ausschreibe hat für mich Jon in einem Interview mit C-SPAN irgendwie ganz einfach auf einen Punkt gebracht:
Ich glaube, da liegt sehr viel Wahrheit drin.